Nichts leichter als das

Mit 17 Jahren ist Marty mehr tot als lebendig. Jahrelang hungert sie sich auf tödliche 39 Kilo herunter. Die Kontrolle über ihren Körper ist zu ihrer Lebensaufgabe geworden.

Denn um Marty herum ist es alles andere als perfekt. Ihre Mutter trinkt, ihr Freund benutzt sie nur und ihrem Vater ist sie egal. Freunde gibt es in ihrem Leben schon lange nicht mehr. Alles dreht sich nur noch um Kalorientabellen und Fettgehalte.

Doch plötzlich ist Schluss damit. Das Mädchen wird gegen ihren Willen in eine Klinik eingewiesen. Diagnose: Magersucht. Auf einmal kann Marty nicht mehr vor ihren Problemen wegrennen, muss sich ihnen stellen. Sie hasst die Klinik, die Leute, die Räume und das lässt sie auch alle spüren. Sie ist nicht krank, redet sie sich ein. Hätte nur ein anderes Verhalten zu Essen, ganz einfach.

Nach außen scheint Marty unglaublich stark. Die anderen Mädchen bewundern sie für ihre Kraft und ihre ehrliche, wenn häufig auch grobe und verletzende Art. Doch das interessiert Marty nicht. Zu den anderen verhält sie sich kalt. Niemand kann hinter die Fassade des taffen Mädchens blicken. Niemand - bis die achtjährige Lily, ebenfalls magersüchtig, eingeliefert wird und als erste Martys Herz tief berührt.

Wird Marty es schaffen, wenn schon nicht für sich, dann wenigstens für Lily, gegen die Krankheit und um ihr Leben zu kämpfen?

Was für ein Werk, unglaublich. Ich habe es verschlungen und liebe die Eigenarten des Buches. Marnelle Tokio wirft mit ‘Nichts leichter als das’ ein ganz anderes Licht auf das Thema Magersucht. Es ist nicht die typische Geschichte: Hübsches, vielleicht auch leicht pummeliges Mädchen fühlt sich zu dick, fängt an, kann aber bald schon nicht mehr aufhören zu hungern und kommt in die Klinik. Es erholt sich, nimmt zu und alles gut.

Nein, ganz im Gegenteil.

Es spielt nicht in der Zeit vor der Klinik. Es wird nicht beschrieben, wie Marty es fertig bringt, nichts mehr zu essen und all diese Geschichten. Die Autorin konzentriert sich darauf, Martys Inneres nach außen anschaulich werden zu lassen. Sie zeigt wie kaputt es in dem Mädchen drinnen aussieht, was für ein psychisches Wrack man mit nur 17 Jahren sein kann. Hart, aber ehrlich.

Marty tanzt aus der Reihe, ist anders - genauso wie dieses Buch. Denn ‘Nichts leichter als das’ bewegt den Leser auf eine ganz besondere Art und Weise. Ich hab schon unzählige Bücher über Magersucht und Bulimie gelesen. Die meisten sind zwar gut geschrieben, aber keines hat mich wirklich so getroffen wie dieses. Vielen meiner Freundinnen geht es ähnlich. Manche sagen sogar, erst durch dieses Buch wirklich begriffen zu haben, wie gefährlich Anorexie ist.

Ob es an dem Schreibstil oder einfach dieser fesselnden Darstellung Martys selbst liegt, kann ich gar nicht genau sagen. Es scheint, als würde nicht nur Marty, sondern auch die Autorin sich verändern. Anfangs gleicht das Mädchen einem Terrier. Es knurrt und lässt niemanden an sich heran, aber Hunde die bellen, beißen ja bekanntlich nicht. Doch Stück für Stück fällt die Maske. Es scheint, als hätte Marnelle Tokio ein Abkommen mit dem Leser getroffen: Je weiter man liest, je mehr man sich auf das Buch, die Geschichte und Marty einlässt, desto mehr gibt die Autorin von dem Mädchen preis. Zeigt, was wirklich in ihr vorgeht, mit all den tiefen Abgründen und dunklen Gedanken. Erschreckend, aber authentisch.

von ricarda.k 15 Jahre, Redaktion Gelsenkirchen am 26.01.2010, Format: Buch