Comet 2007- Schrei so laut du kannst

Oft sind es die ganz Jungen, die Großes bewegen. Dass das tatsächlich so ist, hat jüngst der Musikpreis COMET bewiesen, der seit Jahren regelmäßig von dem Musiksender VIVA verliehen wird. Die ersten Tokio Hotel-Fans kommen schon am Vortag in Köln an und beziehen ihre Plätze am roten Teppich. Ärger mit der Schule und den Eltern wegen Schule schwänzen wird gerne in Kauf genommen, denn schließlich geht es um „die geilste Band der Welt“. Geschlafen wird übrigens auf dem kalten Boden nur mit einer leichten Jacke bekleidet. Gegen acht Uhr morgens kommen dann auch die nächsten „richtigen Fans“ an. Auch sie positionieren sich hinter der Absperrung am roten Teppich um ihren Lieblingen –Bill und Tom Kaulitz- nachher die Hand zu schütteln, ein Autogramm zu bekommen oder ein Foto machen zu können. Im Volksmund bezeichnet man dieses Verhalten als „fanatisch“, wenn es größere Ausmaße annimmt auch als „hysterisch“. Doch es geht hier um Tokio Hotel und so ist schlichtweg von einer Massenhysterie die Rede.

Aber wie entsteht so etwas überhaupt? Es fängt ganz einfach damit an, dass irgendein Manager von einer x-beliebigen Plattenfirma „neue Talente“ entdeckt, die sich auch noch gut vermarkten lassen. Gut müssen sie aussehen und etwas außergewöhnlich sollten sie sein. Alles andere ergibt sich dann von selbst - fast. So wird die Entstehung einer Hysterie in Interviews jedenfalls immer dargestellt. Ganz so harmlos läuft es dann doch nicht ab. Wenn die neuen Talente gefunden und zu einer Band zusammen gepresst wurden – in unserem Fall immer noch als Beispiel „das Phänomen“ Tokio Hotel- werden sie noch ein wenig zurecht gestutzt. Songs werden für sie geschrieben und dann wird es für die Medienpartner langsam spannend. Wenn die ersten Demo-CDs aufgenommen wurden, gehen diese direkt an die wichtigsten Medienanstalten- Bravo, YAM!, Viva etc.- mit der Bitte einen Artikel oder Beitrag über diese Newcomer-Band zu verfassen. Der Bitte wird nachgegangen und schon bald gehen im Axel Springer Verlag, wo die Bravo sitzt, die ersten Leserbriefe mit der Bitte um mehr Infos und die ersten Poster zu der Band ein. Der Funke springt langsam über und den ersten, kleineren Hysterien steht nichts mehr im Wege. Von nun an erscheinen jede Woche Artikel über „die Newcomer-Sensation des Jahres“ und schon bald belegen sie dauerhaft die Titelblätter der Teeniepresse. Jetzt werden auch erste Fernsehbeiträge gedreht. Besuche im Proberaum, Homestories, Interviews mit alten Freunden, Lehrern und natürlich den ersten Fans. Die Entstehung des Albums wird festgehalten. Als Dokumentation, Artikel oder für die erste DVD. Zu der Zeit ist gerade mal die zweite Single erschienen, doch dank der Medien spricht schon jetzt ganz Deutschland von „der neuen Deutschrockband“.
Geburtstage, Partys, Schule- all das geschieht für die Nachwuchsmusiker nur noch im Licht der Öffentlichkeit. Wo auch immer sie sich gerade aufhalten sind sie von Verehrerinnen umgeben und werden von kreischenden Mädchen bis ins Hotel verfolgt. Die Hysterie wächst.
Deswegen fällt recht schnell die Entscheidung die Schule zu verlassen und sich von einem Privatlehrer unterrichten zu lassen- vorerst nur für ein Jahr- um sich mehr auf die Musik konzentrieren zu können. Zu dem Zeitpunkt als das Album erscheint hat die Hysterie solch große Ausmaße angenommen, dass die Musiker auf Schritt und Tritt von Bodyguards bewacht werden (müssen!).

Immer noch erscheinen jede Woche Interviews, Artikel, Reportagen. Die Musikjournalisten sind zu Aas-Geiern geworden, wollen immer mehr, immer größere, spektakulärere Neuigkeiten. Den Fans ist das nicht bewusst- sie stürzen sich voller Freude auf Alles was sie zwischen die Finger bekommen. Der Band fällt ihnen schon lange nicht mehr so leicht wie am Anfang ihrer Karriere unbezwungen mit den Fans umzugehen.

Anders geht es den vier Jungs auch nicht, als sie aus dem Wagen aussteigen, der sie zum roten Teppich des Comets gebracht hat. Knapp 200 kreischende Mädchen empfangen sie. Die Moderatoren verstehen ihr eigenes Wort nicht mehr als sie die vier Magdeburger für ein kurzes Interview beschlagnahmen. Es gilt nun nur das Gespräch möglichst schnell über die Bühne zu bringen. Dann werden ein paar Autogramme gegeben, ein-, zweimal wird hochgeschaut, damit die Fans Fotos machen können. Dann stellen sie sich noch einmal für die Fotografen in Position, lächeln verhalten - und das war‘s. Ein recht kurzes Programm für eine Band die vermutlich schon so viele Fans, wie andere Musiker erst nach 25 Jahren haben. Silbermond dagegen haben sich gut eine Viertelstunde für ihre Fans Zeit genommen. Haben für jedes Foto gelächelt, jede Hand geschüttelt die ihnen entgegen gestreckt wurde, jeden Autogrammwunsch erfüllt. Solange bis ihr Manager hinter ihnen stand. Und selbst da wollten sie noch nicht gehen. Sie wurden nicht angekreischt.

Sobald Tokio Hotel im Kölner Musical Dome verschwinden macht sich auf den Gesichtern der Securities Erleichterung breit. Das waren die letzten, jetzt kommt niemand mehr und schon bald lichten sich die Reihen hinter den Absperrungen bis schließlich nur noch eine Hand voll Jugendlicher da sind.
Als auch die letzten verschwinden machen sich die Sicherheitsleute ebenfalls auf den Weg. Sie müssen auch während der Show aufpassen - diesmal mitten in der Menge. Um 19 Uhr werden die ersten reingelassen und stürmen den Bereich vor der Bühne. Man hat den Eindruck, dass jeder der nicht wegen Bill & Co da ist spätestens ab jetzt verdammt schlechte Karten hat. Auch das scheint zu den Folgen der Massenhysterien zu gehören: völlige Intoleranz. Es wird nichts anderes mehr akzeptiert. Zu dem Zeitpunkt wo dieser Fall eintritt, hat die Hysterie ein Ausmaß angenommen das nicht mehr zu übertreffen ist. Jedenfalls vorerst. Das merken auch die Moderatoren des Comets. Dafür, dass in den Musical Dome nichtmal 2000 Menschen passen, ist es unglaublich laut und als Zuschauer ist es unmöglich, die Laudatien zu verstehen.

Gerade als Silbermond ihren ersten Cometen entgegen nehmen, kommt die Intoleranz der Fans wieder zum Vorschein. Durch ihre Pfiffe bewegen sie die Bauzener dazu, sich dafür zu entschuldigen, dass ihre Fans so oft für sie angerufen haben. Spätestens jetzt wurde eine imaginäre Grenze überschritten. Ungefähr eine Stunde später ist der Augenblick da, auf den fast alle Zuschauerinnen gewartet haben: Tokio Hotel werden mit einer besonderen Version ihres Hits "Spring nicht" angekündigt. Noch bevor der Vorhang ganz hochgegangen ist, hat man das Gefühl, dass es einem das Trommelfell sprengt. Dass dieser Auftritt natürlich -wie auch alle anderen zuvor- playback ist, interessiert niemanden. Wieder brechen einige Mädchen weinend in den Armen ihrer besten Freundinnen zusammen- wie vorher schon als Bill, Tom, Gustav und Georg ihre beiden Cometen bekommen haben. Als dann auch noch der "Supercomet" folgt, geht gar nichts mehr. Ein weiteres Mal wird die Band auf die Bühne gebeten um "Spring nicht" zum Besten zu geben. Dann ist alles vorbei. Noch während die letzten Gitarreakkorde verklingen stürmen die Mädchen aus dem Saal in Richtung Ausgang. Das ein oder andere Mal meint man im Vorbeigehen jemand etwas faseln zu hören, "Maritim" oder auch "Hyatt". Eine weitere Nacht folgt in der sicherlich die ein oder andere Mutter schlaflos im Bett liegt, weil sie inzwischen heraus gefunden hat, dass ihre Tochter beschlossen hat vor einem Hotel zu schlafen in dem sich ihre Lieblingsband befinden könnte. Wie weit darf eine Massenhysterie gehen?

Für diese Reportage wurde bei einigen Zeitungsredaktionen sowie Managements recherchiert. Außerdem haben Gespräche mit diversen Musikern stattgefunden.

von Redaktion Köln 1 am 12.06.2007, Format: Reportage

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